§3 BetrVG Abweichende Regelungen

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Gewerkschaften und Arbeitgeber/-verbände können durch tarifvertragliche Regelungen nicht nur Umfang und faktisches Bestehen von Beteiligungsrechten des Betriebsrats, sondern schon bei der Bildung eines Betriebsrats Art und Struktur der Arbeitnehmervertretungen erheblich beeinflussen. Wie auch der Betriebsrat bei seinen Beteiligungsrechten, so müssen Betriebsrat oder Wahlinitiatoren daher vorab prüfen, ob die Tarifvertragsparteien die durch die Öffnungsklausel des §3 BetrVG ermöglichten Abweichungen von den gesetzlichen Vorschriften vereinbart haben.


§3 Abweichende Regelungen

(1) Durch Tarifvertrag können bestimmt werden:

1. für Unternehmen mit mehreren Betrieben

a) die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats oder
b) die Zusammenfassung von Betrieben,

wenn dies die Bildung von Betriebsräten erleichtert oder einer sachgerechten Wahrnehmung der Interessen der Arbeitnehmer dient;

2. für Unternehmen und Konzerne, soweit sie nach produkt- oder projektbezogenen Geschäftsbereichen (Sparten) organisiert sind und die Leitung der Sparte auch Entscheidungen in beteiligungspflichtigen Angelegenheiten trifft, die Bildung von Betriebsräten in den Sparten (Spartenbetriebsräte), wenn dies der sachgerechten Wahrnehmung der Aufgaben des Betriebsrats dient;

3. andere Arbeitnehmervertretungsstrukturen, soweit dies insbesondere aufgrund der Betriebs-, Unternehmens- oder Konzernorganisation oder aufgrund anderer Formen der Zusammenarbeit von Unternehmen einer wirksamen und zweckmäßigen Interessenvertretung der Arbeitnehmer dient;

4. zusätzliche betriebsverfassungsrechtliche Gremien (Arbeitsgemeinschaften), die der unternehmensübergreifenden Zusammenarbeit von Arbeitnehmervertretungen dienen;

5. zusätzliche betriebsverfassungsrechtliche Vertretungen der Arbeitnehmer, die die Zusammenarbeit zwischen Betriebsrat und Arbeitnehmern erleichtern.


(2) Besteht in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1, 2, 4 oder 5 keine tarifliche Regelung und gilt auch kein anderer Tarifvertrag, kann die Regelung durch Betriebsvereinbarung getroffen werden.


(3) Besteht im Fall des Absatzes 1 Nr. 1 Buchstabe a keine tarifliche Regelung und besteht in dem Unternehmen kein Betriebsrat, können die Arbeitnehmer mit Stimmenmehrheit die Wahl eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats beschließen. Die Abstimmung kann von mindestens drei wahlberechtigten Arbeitnehmern des Unternehmens oder einer im Unternehmen vertretenen Gewerkschaft veranlasst werden.


(4) Sofern der Tarifvertrag oder die Betriebsvereinbarung nichts anderes bestimmt, sind Regelungen nach Absatz 1 Nr. 1 bis 3 erstmals bei der nächsten regelmäßigen Betriebsratswahl anzuwenden, es sei denn, es besteht kein Betriebsrat oder es ist aus anderen Gründen eine Neuwahl des Betriebsrats erforderlich. Sieht der Tarifvertrag oder die Betriebsvereinbarung einen anderen Wahlzeitpunkt vor, endet die Amtszeit bestehender Betriebsräte, die durch die Regelungen nach Absatz 1 Nr. 1 bis 3 entfallen, mit Bekanntgabe des Wahlergebnisses.


(5) Die aufgrund eines Tarifvertrages oder einer Betriebsvereinbarung nach Absatz 1 Nr. 1 bis 3 gebildeten betriebsverfassungsrechtlichen Organisationseinheiten gelten als Betriebe im Sinne dieses Gesetzes. Auf die in ihnen gebildeten Arbeitnehmervertretungen finden die Vorschriften über die Rechte und Pflichten des Betriebsrats und die Rechtsstellung seiner Mitglieder Anwendung.


Rechtsprechung

BUNDESARBEITSGERICHT Beschluss vom 13.3.2013, 7 ABR 70/11

Die mit § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG eröffnete Möglichkeit, durch Tarifvertrag vom Gesetz abweichende Arbeitnehmervertretungsstrukturen zu bestimmen, setzt einen Zusammenhang zwischen vornehmlich organisatorischen oder kooperativen Rahmenbedingungen auf Arbeitgeberseite und der wirksamen sowie zweckmäßigen Interessenvertretung der Arbeitnehmer voraus. Fehlt es hieran, ist der Tarifvertrag unwirksam.


BUNDESARBEITSGERICHT Beschluss vom 24.4.2013, 7 ABR 71/11 Unternehmenseinheitlicher Betriebsrat - Sachdienlichkeit - Betriebsvereinbarung nach § 3 Abs 1 Nr 1 Buchst a, Abs 2 BetrVG

Leitsätze

1. Bei der Prüfung, ob die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats sachdienlich iSv. § 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Alt. 2 BetrVG ist, ist von besonderer Bedeutung, wo die mitbestimmungspflichtigen Entscheidungen im Betrieb getroffen werden. Bei der Beurteilung der Sachdienlichkeit sind allerdings noch weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen; dazu gehört insbesondere der Gesichtspunkt der Ortsnähe der Betriebsvertretung.

2. Soll die Errichtung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats der Erleichterung der Bildung von Betriebsräten nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Alt. 1 BetrVG dienen, ist sie dann vom Zweck der Regelung nicht mehr gedeckt, wenn diese Erleichterung ohne Weiteres bereits durch die Zusammenfassung von Betrieben erreicht werden kann und sich demgegenüber die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats als ersichtlich weniger sachgerechte Lösung darstellt.

3. Bei der Frage, ob sie von den sich aus § 3 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG ergebenden Möglichkeiten Gebrauch machen und eine Betriebsvereinbarung nach § 3 Abs. 2 BetrVG abschließen wollen, kommt den Betriebsparteien ein Einschätzungsspielraum hinsichtlich des Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen sowie ein Beurteilungs- und ein Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung einer Regelung zu. Ob die Betriebsparteien hierbei die gesetzlichen Vorgaben eingehalten oder überschritten haben, unterliegt im Streitfall der gerichtlichen Überprüfung.

4. Für den Abschluss einer derartigen Betriebsvereinbarung ist der Gesamtbetriebsrat zuständig. Es besteht kein Vetorecht eines örtlichen Betriebsrats.


BUNDESARBEITSGERICHT Beschluss vom 21.9.2011, 7 ABR 54/10 Betriebsratswahl in gewillkürter Organisationseinheit - Anfechtung wegen Verkennung des Betriebsbegriffs

Leitsätze

1. Die Wahl eines Betriebsrats in einer nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b, Abs. 5 Satz 1 BetrVG gebildeten betriebsverfassungsrechtlichen Organisationseinheit kann wegen Verkennung des Betriebsbegriffs nach § 19 Abs. 1 BetrVG angefochten werden. Dies gilt auch, wenn die Betriebsratswahlen in angrenzenden Organisationseinheiten unangefochten geblieben sind.

2. Ein Tarifvertrag, durch den Betriebe gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b BetrVG zusammengefasst werden, kann dynamisch regeln, dass Betriebsräte jeweils in den Regionen zu wählen sind, in denen nach den organisatorischen Vorgaben des Arbeitgebers Bezirksleitungen bestehen. Dies entspricht dem Grundsatz, dass Interessenvertretungen der Arbeitnehmer dort gebildet werden, wo sich unternehmerische Leitungsmacht konkret entfaltet.


Landesarbeitsgericht Köln, 7 TaBV 31/11

Eine auf der Grundlage eines sog. Zuordnungs-Tarifvertrags gebildete Betriebsratsregion verliert ihre betriebsverfassungsrechtliche Betriebsidentität nicht automatisch immer schon dann, wenn sich die Zuständigkeiten der Ansprechpartner auf Arbeitgeberseite ändern.


Landesarbeitsgericht Köln, 9 TaBV 78/10

Zur Anfechtbarkeit einer Betriebsratswahl, die nach ordentlicher Kündigung eines Tarifvertrages über vom Gesetz abweichende Betriebsratsstrukturen (§ 3 BetrVG), aber vor Auslaufen der Kündigungsfrist, stattgefunden hat


ArbG Hamburg 08.03.2013 27 BV 25/12

1. Betriebsverfassungsrechtliche Normen eines Tarifvertrags, die wie im vorliegenden Fall die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats erweitern, entfalten Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG. Die Nachwirkung gilt auch zugunsten von Arbeitnehmern, die erst im Nachwirkungszeitraum in den jeweiligen Betrieb eintreten.

2. Die Nachwirkung betriebsverfassungsrechtlicher Normen eines Tarifvertrags ist zeitlich zu begrenzen. § 4 Abs. 5 TVG ist teleologisch zu reduzieren.

3. Die Nachwirkung ist zeitlich begrenzt auf die Amtsperiode des Betriebsrats, der im Zeitpunkt des Beginns der Nachwirkung amtiert. Für einen später - also im Nachwirkungszeitraum - gewählten Betriebsrat findet der abgelaufene Tarifvertrag keine Anwendung mehr. Ob dies auch für Tarifverträge nach § 117 Abs. 2 S. 1 BetrVG gilt, kann offen bleiben.


Landesarbeitsgericht München 11. August 2011 2 TaBV 5/11

Unternehmenseinheitlicher Betriebrat

1. Zuständig für den Abschluss einer Vereinbarung über die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats ist der Gesamtbetriebsrat.

Ein Betriebsrat, der nach der Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats nicht mehr existiert, hat insoweit kein Vetorecht.

2. § 3 Abs. 2 BetrVG schließt eine Betriebsvereinbarung über einen unternehmenseinheitlichen Betriebsrat nur dann aus, wenn ein "anderer Tarifvertrag" kraft Tarifbindung des Arbeitgebers oder Allgemeinverbindlichkeit gilt, nicht dagegen bei einer lediglich einzelvertraglichen Bezugnahme auf den Tarifvertrag. (juris)


ArbG Hamburg 13.6.2006 19 BV 16/06

1. Sofern Unternehmen verschmolzen werden, führt die Existenz eines nach § 3 Abs. 3 BetrVG für das aufnehmende Unternehmen gebildeten Betriebsrates nicht dazu, dass das Amt eines für den Betrieb eines aufgenommenen Unternehmens gebildeten Betriebsrates mit der Verschmelzung erlöscht, sofern die Identität dieses Betriebes nach der Verschmelzung erhalten bleibt.

2. Eine Betriebsratswahl ist nichtig, wenn die Wahl eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrates nach § 3 Abs. 3 BetrVG nicht nur für ein, sondern für mehrere Unternehmen erfolgt. (RechtsCentrum)